Autismus-Spektrum-Störung (ASS) in Kombination mit ADHS/ADS
Lange Zeit galten Autismus und ADHS als getrennte Diagnosen, die nicht gleichzeitig gestellt werden durften. Nach älteren Klassifikationen (z. B. DSM-IV oder ICD-10) schloss eine Autismus-Diagnose eine ADHS-Diagnose explizit aus. In der Realität zeigen viele Kinder Merkmale beider Störungsbilder gleichzeitig, weshalb die neueren Leitlinien diese Komorbidität anerkennen. Heute wissen wir, dass Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) und ADHS häufig zusammen auftreten. Es gibt Hinweise darauf, dass ADHS und Autismus auch gemeinsame genetische Wurzeln haben könnten und ähnliche neurobiologische Pfade (z. B. Dopamin-Stoffwechsel) betroffen sind.
Etwa 30–50 % der autistischen Kinder erfüllen zugleich die Kriterien einer ADHS. Umgekehrt findet man auch bei Kindern mit ADHS in nennenswertem Anteil autistische Züge; genaue Zahlen variieren, aber Studien nennen Komorbiditätsraten von ca. 10–20 % für ASS bei ADHS-Kindern. Diese große Spannbreite erklärt sich dadurch, dass „Autismus-Spektrum“ sehr heterogen ist – vom hochfunktionalen Asperger-Autismus bis zum frühkindlichen Kanner-Autismus mit geistiger Behinderung. Besonders im Bereich des sogenannten hochfunktionalen Autismus (intelligente Autist:innen mit milden, vor allem sozialen Auffälligkeiten) ist ADHS als Begleiterkrankung häufig. Seit DSM-5 kann daher die Doppeldiagnose ADHS + ASS offiziell vergeben werden.
Für die Betroffenen bedeutet die Kombination, dass sich die Symptome beider Störungen überlappen und gegenseitig verstärken können. Ein Kind mit beiden Diagnosen hat meist gravierende Aufmerksamkeits- und Impulsivitätsprobleme sowie autistische Kernsymptome (Beeinträchtigung der sozialen Interaktion, spezielle Interessen, Bedürfnis nach Routine). Oft fallen solche Kinder durch äußerst starke Unruhe und gleichzeitig schwere soziale Verständigungsprobleme auf. Die Diagnose erfordert viel Erfahrung, da man genau prüfen muss, welche Verhaltensweisen vom Autismus und welche von der ADHS herrühren. Beispielsweise kann Blickkontaktmangel oder soziale Ungeschicklichkeit primär autistisch bedingt sein, während motorische Unruhe und Ablenkbarkeit von der ADHS kommen – allerdings beeinflussen sich diese Symptome wechselseitig.
Therapeutisch ist die Kombination eine Herausforderung: Die üblichen ADHS-Medikamente (Stimulanzien) können helfen, die Konzentration zu verbessern, aber man muss sie vorsichtig einsetzen, da autistische Kinder mit sensorischen Empfindlichkeiten manchmal empfindlich auf Medikamente reagieren. Andererseits profitieren viele ADHS-ASS-Kinder durchaus von Methylphenidat und es gibt Studien, die eine gute Ansprechrate zeigen. Verhaltenstherapeutisch benötigen diese Kinder sowohl sozial-kommunikative Förderung (wie es bei Autismus üblich ist, z. B. Training von sozialen Fertigkeiten, Strukturierung des Tages) als auch Impulse-Kontrolltraining und Organisationshilfen (wie bei ADHS).
Eltern solcher Kinder brauchen Unterstützung und Anleitung, da der Erziehungsalltag besonders anspruchsvoll ist. Erwachsene mit gleichzeitigem ADHS und Asperger-Syndrom berichten oft, dass die ADHS-Symptome (Unordnung, Zeitmanagement-Probleme, Impulsivität) ihnen genauso oder mehr Schwierigkeiten bereiten wie die autistischen Aspekte. Eine integrative Therapie, idealerweise durch ein interdisziplinäres Team, ist erforderlich, um beiden Aspekten gerecht zu werden. Trotz der zusätzlichen Herausforderungen ist es für Betroffene ein Gewinn, wenn beide Störungen erkannt werden, denn nur so können passende Hilfen (Therapie, ggf. Medikamente, sozialpädagogische Unterstützung) in die Wege geleitet werden. So kann ein Kind mit Autismus und ADHS z. B. einen Schulbegleiter und eine medikamentöse Unterstützung bekommen, was beides zusammen seine Teilhabe und Entwicklung deutlich verbessern kann.