Geschlechtsspezifische Besonderheiten von ADHS bei Frauen und Mädchen
ADHS wurde lange Zeit als „Jungen-Störung“ wahrgenommen – der prototypische Patient war der hyperaktive, impulsive Junge. Mädchen und Frauen mit ADHS blieben dagegen häufig unerkannt. Tatsächlich zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede in Präsentation und Diagnoseraten.
Im Kindesalter werden Jungen etwa 3- bis 4-mal so häufig diagnostiziert wie Mädchen. Ein Teil dieses Unterschieds dürfte diagnostische Verzerrung sein: Mädchen mit ADHS haben seltener die ausgeprägte Hyperaktivität und aggressiv-oppositionelle Verhaltensprobleme, die sofort Aufmerksamkeit erregen. Stattdessen fällt ADHS bei ihnen häufiger als unaufmerksame, verträumte Variante auf – diese Mädchen gelten als ruhig, jedoch zerstreut, vergesslich, „in ihrer eigenen Welt“ (vergleichbar dem ADS-Typ). Solche Symptome werden in der Schule leichter übersehen oder als geringeres Problem angesehen, sodass viele Mädchen keine frühzeitige Diagnose erhalten. Zudem sind gängige Beurteilungsskalen für ADHS historisch an den Verhaltensweisen von Jungen normiert; subtile Zeichen, wie sie bei Mädchen vorkommen, werden dadurch mitunter nicht ausreichend abgebildet.
Im Jugendalter gleichen sich die Geschlechter etwas an: Die zuvor stillen Mädchen geraten dann durch Impulsivität (z. B. Risikoverhalten, emotionale Krisen) in den Blick, während bei manchen Jungen die Hyperaktivität abnimmt. Im Erwachsenenalter zeigen Untersuchungen ein nahezu ausgeglichenes Geschlechterverhältnis der ADHS-Betroffenen (etwa 1:1) . Dies bedeutet, dass viele Frauen spät diagnostiziert werden – oft erst im jungen oder mittleren Erwachsenenalter, nachdem sie jahrelang unerkannt mit Symptomen gelebt haben.
Häufig kommen Frauen erst durch Folgeprobleme auf die ADHS-Spur: Sie suchen Hilfe wegen chronischer Überforderung, Angststörungen, Depressionen oder eines Burnout-Syndroms, und erst bei genauer Betrachtung wird die dahinter liegende lebenslange Aufmerksamkeitsstörung deutlich. Frauen mit ADHS berichten im Rückblick, dass sie als Mädchen enorme Anstrengungen unternommen haben, um ihre Defizite zu kompensieren – z. B. durch Fleiß, Organisationstricks oder Rückzug. Ist eine Frau intelligent und strukturiert, kann sie die Schulzeit und Ausbildung mit viel Energieaufwand meistern, ohne dass jemand ADHS vermutet. Die Kosten zeigen sich oft erst später: Sobald die Anforderungen steigen (Studium, Beruf, Familie) oder Unterstützung wegfällt, stoßen diese Frauen an Grenzen und erleben plötzlich Versagenserlebnisse.
Typisch weibliche ADHS-Profile sind geprägt von innerer Unruhe, chronischem Stressgefühl, Selbstwertproblemen und Neigung zu Grübeleien – weniger von lautstarker Hyperaktivität. Interessanterweise finden sich bei erwachsenen Frauen mit ADHS gehäuft emotionale Probleme wie Essstörungen, Angst oder Depression, bevor die ADHS auffällt. Man spricht hier von einem „Gender Bias“: Ärzt:innen behandeln z. B. die Depression, übersehen aber, dass die Patientin ihr Leben lang Konzentrationsschwierigkeiten, Desorganisation und Impulskontrollprobleme hatte, die zur Überforderung beitrugen. Mittlerweile wächst das Bewusstsein für ADHS bei Frauen.
Studien deuten darauf hin, dass Frauen mit ADHS im Alltag oft anders umgehen: Sie entwickeln z. B. eher kompensatorische Strategien im sozialen Bereich, was die Kernsymptome kaschieren kann. Dennoch leiden sie stark unter dem ständigen Gefühl, „nicht so leistungsfähig zu sein wie andere“, was zu erhöhter Selbstkritik führt. In der Behandlung ist es wichtig, diese geschlechtsspezifischen Aspekte zu berücksichtigen. Bei Mädchen sollte ADHS in Betracht gezogen werden, wenn anhaltende Unaufmerksamkeit, schulische Underachievement und emotionale Überreizung auftreten – auch ohne Hyperaktivität. Bei Frauen, die mit 30–40 Jahren mit Erschöpfungssymptomen kommen, kann eine unerkannte ADHS im Hintergrund stehen, die durch die Lebensumstände dekompensiert ist.
Insgesamt gilt: ADHS ist bei weiblichen Betroffenen nicht seltener, aber oft andersartig in Erscheinung und wird dadurch historisch weniger diagnostiziert. Eine frühzeitige Diagnose bei Mädchen und Frauen ist jedoch ebenso wichtig, da eine unbehandelte ADHS auch sie in ihrem Bildungsweg, Berufsleben und psychischen Wohlbefinden erheblich beeinträchtigen kann.