Hochbegabung in Kombination mit ADHS/ADS
Ein besonderes Thema ist die Kombination von Hochbegabung und ADHS, manchmal als „twice exceptional“ (doppelt außergewöhnlich) bezeichnet. Auf den ersten Blick scheinen Hochbegabung (sehr hohe Intelligenz) und ADHS gegensätzliche Eigenschaften zu sein – tatsächlich können sie aber bei derselben Person koexistieren. Die Forschung ist sich einig, dass ADHS in allen Intelligenzbereichen vorkommt, also auch bei überdurchschnittlich oder hoch begabten Menschen. Es gibt hochbegabte Kinder mit ADHS, die einerseits außergewöhnliche kognitive Fähigkeiten zeigen, andererseits deutliche Aufmerksamkeits- und Impulsivitätsprobleme.
Früher ging man manchmal davon aus, dass ein sehr hoher IQ gegen ADHS „immun“ mache oder dass ADHS-Symptome bei klugen Kindern nur Ausdruck von Langeweile seien. Inzwischen weiß man, dass Begabung keine Garantie gegen ADHS ist – beide Eigenschaften sind relativ unabhängig. Einige Untersuchungen deuten sogar auf überzufällige Überschneidungen hin. Beispielsweise fand eine Studie bei 37 % der Erwachsenen mit IQ ≥130 auch eine ausgeprägte ADHS-Symptomatik. Umgekehrt zeigen Erhebungen, dass etwa 5–6 % der Menschen mit ADHS hochbegabt sind – höher als die 2–3 % in der Normalbevölkerung. Diese Zahlen sind mit Vorsicht zu interpretieren, aber sie verdeutlichen: Hochbegabung schließt ADHS nicht aus (und vice versa). Tatsächlich berichten spezialisierte Kliniker, dass weit mehr ADHS-Betroffene hochintelligent sind, als man erwarten würde.
In der Praxis stellt die Doppelkonstellation eine diagnostische Herausforderung dar. Hochbegabte Kinder langweilen sich in einer unterfordernden Umgebung schnell und können dann aus Unmut ähnlich reagieren wie ADHS-Kinder: Sie passen nicht auf, wirken unruhig oder störend, schalten innerlich ab oder zeigen impulsive Zwischenrufe. Der Unterschied besteht darin, dass diese pseudounaufmerksamen Verhaltensweisen bei hochbegabten Kindern verschwinden, sobald sie entsprechend intellektuell gefordert werden. Ein echtes ADHS hingegen zeigt sich auch dann, wenn die Aufgabe spannend ist – hier sind die Probleme konstanter. Die aktuellen S3-Leitlinien für ADHS empfehlen daher explizit, bei Verdacht auf ADHS auch die Intelligenz zu diagnostizieren, um eine mögliche Unterforderung oder Hochbegabung zu erkennen. So soll verhindert werden, dass ein hochbegabtes Kind fälschlich als „ADHS“ eingeordnet wird, obwohl es in Wirklichkeit schlicht unterfordert war.
Natürlich gibt es auch den umgekehrten Fall: Doppeldiagnose ADHS + Hochbegabung. Diese Kinder (oder Erwachsenen) brauchen eine sehr individuelle Förderung. Einerseits benötigen sie Begabtenförderung und genügend intellektuelle Herausforderungen, andererseits aber auch strukturierende Hilfen und Therapie für die ADHS-Problematik. Oft stehen sie sich durch ihre ADHS-bedingte Desorganisation selbst im Weg und können ihr Potenzial nicht ausschöpfen. Sie erleben eine Diskrepanz zwischen ihrem hohen Denken und dem, was sie praktisch umsetzen können, was zu Frustration und Selbstwertproblemen führt.
Es ist wichtig, Eltern und Lehrkräfte für diese Doppelproblematik zu sensibilisieren: Ein hochbegabtes Kind mit ADHS ist weder „absichtlich faul“ noch trotz Hochbegabung automatisch erfolgreich. Es braucht zugleich Fördermaßnahmen (z. B. Anreicherung des Lernstoffs, Überspringen von Klassen) und Unterstützung im Selbstmanagement (z. B. Lernstrategien, gegebenenfalls medikamentöse Hilfe). Positiv betrachtet haben solche „zweifach außergewöhnlichen“ Personen oft außergewöhnliche kreative Fähigkeiten: Manche ADHS-Hochbegabte entwickeln z. B. ausgeprägte Spezialinteressen, in denen sie regelrecht hyperfokussieren und Außergewöhnliches leisten, während sie in langweiligen Routineaufgaben versagen.