Was ist AD(H)S? Definition, Verbreitung, Ursachen und Begleiterscheinungen von ADS / ADHS

Definition

ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung) ist eine neuroentwicklungsbedingte Störung, die bereits in der Kindheit beginnt und durch drei Kernsymptome gekennzeichnet ist: Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität und Hyperaktivität. Betroffene zeigen ein stabil auftretendes Muster von Unaufmerksamkeit (z. B. leicht ablenkbar, Konzentrationsschwäche), impulsivem Verhalten (voreiliges Handeln, geringe Frustrationstoleranz) und motorischer Unruhe (ständiger Bewegungsdrang, „Zappelphilipp“). Die Störung kann sich im Jugendalter teilweise zurückbilden oder in veränderter Form bis ins Erwachsenenalter fortbestehen.

ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) wird oft als Variante ohne Hyperaktivität bezeichnet. Hier fehlen die deutlichen Anzeichen körperlicher Unruhe; das Bild ist hauptsächlich durch Unaufmerksamkeit („Träumer“‐Typus) geprägt, oft dennoch begleitet von Impulsivität. In der klinischen Diagnostik entsprechen ADS-Patient:innen meist dem vorwiegend unaufmerksamen Subtyp der ADHS (im DSM-5 „ADHD predominantly inattentive presentation“).

Wichtig: ADHS und ADS sind keine unterschiedlichen Krankheiten, sondern ADS ist eine Ausprägungsform der ADHS mit geringer Hyperaktivität. Beide erfordern, dass die Symptome seit der Kindheit in klinisch bedeutsamer Ausprägung auftreten und zu deutlichen Beeinträchtigungen in mehreren Lebensbereichen führen.

Verbreitung von ADHS in Deutschland

ADHS ist eine der häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter . Die Prävalenzangaben variieren leicht je nach Studie und Diagnosekriterium. Repräsentative Befragungen in Deutschland (KiGGS-Studie) ergaben, dass etwa 4–5 % der 3- bis 17-Jährigen jemals die Diagnose ADHS erhalten haben. International liegt die Häufigkeit in dieser Altersgruppe um ~5 % (eine oft zitierte Metaanalyse nennt 5,3 % weltweit). In Deutschland sind Jungen deutlich häufiger betroffen als Mädchen – das Verhältnis der Diagnosen im Kindesalter beträgt ungefähr 3–4:1 zugunsten der Jungen. Nach der Pubertät relativiert sich dieser Unterschied etwas: Im Jugend- und Erwachsenenalter nähert sich das Verhältnis an (in einigen Studien etwa 1,6:1, teils bis 1:1) , da viele Frauen erst später diagnostiziert werden (s. u. geschlechtsspezifische Besonderheiten).

ADHS beginnt in der Kindheit und war lange als reine „Kinderkrankheit“ angesehen. Heute weiß man, dass die Störung häufig in veränderter Form persistiert: Über 60 % der Betroffenen zeigen auch im Erwachsenenalter noch zumindest einige der Kernsymptome. Allerdings erfüllen nicht mehr alle im Erwachsenenalter die vollen Diagnosekriterien – je nach Definition leiden etwa 1–4 % der Erwachsenen an einer klinisch relevanten ADHS.

In Deutschland wird geschätzt, dass ca. 2 Millionen Erwachsene von ADHS betroffen sind, viele davon ohne es zu wissen (aufgrund fehlender Diagnose in der Kindheit). Unbehandelte ADHS kann im Erwachsenenleben erhebliche Beeinträchtigungen verursachen, weshalb das Störungsbild inzwischen auch in der Erwachsenenpsychiatrie viel Beachtung findet.

Ursachen und multifaktorielle Einflüsse

ADHS entsteht durch ein Zusammenspiel biologischer und psychosozialer Faktoren, wobei die genauen Mechanismen noch nicht vollständig aufgeklärt sind.

Genetik

Die Ätiologie von ADHS ist komplex und multifaktoriell. Es gibt nicht „die eine Ursache“ – vielmehr interagieren genetische Veranlagungen und Umweltfaktoren miteinander . Zwillings- und Familienstudien zeigen eine hohe Erblichkeit von etwa 70–80 %, was bedeutet, dass genetische Faktoren einen großen Anteil am Auftreten von ADHS haben. Identifiziert wurden zahlreiche Genvarianten, u. a. solche, die das dopaminerge und glutamaterge System betreffen, was auf neurobiologische Grundlagen hinweist.

Einflüsse rund um die Geburt und frühen Kindheit

Pränatale und perinatale Risiken spielen ebenfalls eine Rolle: Komplikationen in Schwangerschaft und Geburt, Nikotin- oder Alkoholexposition des Fetus (Rauchen und Alkoholkonsum der Mutter) erhöhen das ADHS-Risiko nachweislich. Auch Frühgeburt und geringes Geburtsgewicht werden als Risikofaktoren diskutiert. Zudem können frühe Umweltfaktoren und psychosoziale Einflüsse die Ausprägung von ADHS mitbestimmen. Beispielsweise werden Überforderungssituationen in früher Kindheit (etwa zu frühe Einschulung), chronischer Stress oder Familienkonflikte allein nicht als direkte Ursachen angesehen, können aber bei genetisch veranlagten Kindern als Auslöser oder Verstärker wirken. Auch Neurotoxine wie Bleibelastung in der Umwelt oder ein schwerer frühkindlicher Mangel an Sauerstoff könnten einen Einfluss haben.

Neurophysiologie und Neurotransmitter-Dysfunktionen

ADHS wird heute als neurobiologische Entwicklungsstörung des Gehirns verstanden. Zentral ist eine Dysfunktion in der Signalübertragung von Neurotransmittern, vor allem Dopamin und Noradrenalin, in bestimmten Hirnarealen. Insbesondere die Dopamin-Transmission im Belohnungs- und Motivationszentrum (inklusive Striatum, z. B. Nucleus accumbens und Nucleus caudatus) ist bei ADHS-Patienten abgeschwächt.  Das bedeutet, dass Betroffene im Vergleich zu Neurotypischen weniger wirksame Dopaminwirkung in den Schaltkreisen haben, die Motivation, Belohnungsverarbeitung und Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit steuern.

Auch eine Beeinträchtigung der Noradrenalin-Vermittlung wird angenommen; die Wirksamkeit von Medikamenten wie Guanfacin (ein Noradrenalin-Modulator) stützt die Annahme einer Noradrenalin-Dysregulation. Die Folgen dieser Neurotransmitter-Ungleichgewichte sind Probleme, Reize zu filtern, Aufgaben zu organisieren und Belohnungen zu bewerten – was viele ADHS-Symptome erklärt (z. B. geringe intrinsische Motivation für routinemäßige Aufgaben, ständige Suche nach externen Reizen).

Neuere Studien weisen zudem auf eine Beteiligung des Glutamatsystems hin: Bei ADHS wurden genetische Variationen im glutamatergen System gefunden, und reduzierte Glutamat-Aktivität im Striatum (wichtig für kognitive und motorische Steuerung) konnte nachgewiesen werden. Dieses komplexe neurochemische Ungleichgewicht beeinträchtigt die Exekutivfunktionen (Arbeitsgedächtnis, Handlungsplanung, Impulskontrolle), da die beteiligten Hirnnetzwerke nicht optimal moduliert werden.

Stimulantien wie Methylphenidat und Amphetamine wirken genau hier: Sie erhöhen die Verfügbarkeit von Dopamin und Noradrenalin im synaptischen Spalt, indem sie deren Wiederaufnahme hemmen, wodurch die Signalübertragung verbessert wird. Etwa 80 % der Betroffenen sprechen auf Stimulanzien positiv an  – ein indirekter Beleg dafür, dass die Unterfunktion dopaminerger/noradrenerger Systeme ein Kernproblem der ADHS darstellt.

Anatomische Besonderheiten des Gehirns bei ADHS

Bei ADHS zeigen sich strukturelle Auffälligkeiten im Gehirn, allerdings meist in Form von leichten Abweichungen in Volumen oder Reifung, keine groben Fehlbildungen. Bildgebungsstudien haben konsistent etwas geringeres Hirnvolumen bei ADHS-Patienten gefunden. So ist das Gehirn von Kindern und Erwachsenen mit ADHS in verschiedenen Regionen im Schnitt 3–5 % kleiner als bei Personen ohne ADHS.

Betroffen sind vor allem Bereiche, die mit den ADHS-Symptomen in Verbindung stehen: die Frontallappen (v. a. der rechte präfrontale Kortex, zuständig für Aufmerksamkeitsteuerung und Impulskontrolle), das Corpus callosum (Balken, verbindet die Hemisphären), Teile der Basalganglien (besonders der rechte Nucleus caudatus und Globus pallidus, beteiligt an Handlungsplanung und Motivation) sowie das Kleinhirn (Koordination und Impulskontrolle). Diese Volumenminderungen sind relativ gering und haben interindividuell große Überschneidungen – sie gelten daher als biologische Korrelate, nicht als diagnostische Marker.

Ein weiterer wichtiger Befund ist eine Verzögerung der kortikalen Reifung: Die Großhirnrinde (Cortex) entwickelt sich bei Kindern mit ADHS zeitlich verzögert. In einer Längsschnitt-MRT-Studie wurde gezeigt, dass Kinder mit ADHS den Zeitpunkt maximaler Kortikaldicke (einen Marker für Reifungsabschluss bestimmter Areale) im Durchschnitt etwa 3 Jahre später erreichten als neurotypische Kinder. Besonders ausgeprägt war die Verzögerung in den vorderen Hirnregionen (präfrontaler Kortex), die für höhere kognitive Funktionen wie abstraktes Denken, Verhaltenssteuerung und Aufmerksamkeit zuständig sind  – also genau jene Fähigkeiten, die bei ADHS beeinträchtigt sind. Interessanterweise fand man, dass einige sensorisch-motorische Areale bei ADHS-Kindern nicht verzögert, teils sogar leicht frühreif waren, während die Kontrollsysteme hinterherhinkten. Dieses Muster („Motorik schneller, Kontrolle langsamer“) könnte die ausgeprägte Hyperaktivität erklären.

Insgesamt sprechen die Befunde dafür, dass ADHS-Gehirne langsamer reifen und in bestimmten Netzwerken (v.a. Frontostriatal und Cerebellär) etwas anders organisiert sind. Wichtig: Die Unterschiede nivellieren sich teilweise im Verlauf der Adoleszenz – die Hirnentwicklung ist nicht grundsätzlich abnormal, sondern verzögert . Diese Erkenntnis untermauert das Verständnis von ADHS als Entwicklungsverzögerung neurobiologischer Kontrollmechanismen, was auch erklärt, warum viele Betroffene im Erwachsenenalter Kompensationsstrategien entwickeln und sich Symptome abschwächen können.

Typische Begleiterscheinungen bei ADHS/ADS

ADHS tritt häufig nicht isoliert auf – viele Betroffene haben zusätzlich andere psychische oder Entwicklungsstörungen (Komorbiditäten). Studien zeigen, dass mindestens 60–80 % der ADHS-Patient:innen im Laufe des Lebens eine weitere diagnoserelevante Auffälligkeit entwickeln.

Im Kindes- und Jugendalter sind besonders Verhaltensstörungen verbreitet: Bei bis zu der Hälfte der Kinder mit ADHS bestehen oppositionell-aufsässige Verhaltensweisen oder eine Störung des Sozialverhaltens (aggressiv-dissoziales Verhalten) als Begleiterkrankung. Damit einher geht ein erhöhtes Risiko für Schulprobleme, Konflikte mit dem Gesetz (bei schwerer Ausprägung) und riskante Verhaltensweisen in der Adoleszenz.

Ebenfalls sehr häufig sind spezifische Lernstörungen: Schätzungsweise 20–30 % der ADHS-Kinder haben eine Lese-Rechtschreib-Störung (Legasthenie) oder Rechenstörung (Dyskalkulie), was die schulischen Leistungen zusätzlich beeinträchtigen kann. Motorische Koordinationsstörungen (Dyspraxie) und Sprachentwicklungsstörungen kommen ebenfalls überzufällig vor. Ferner treten bei Kindern mit ADHS häufig emotionale Regulationsprobleme auf – sie haben z. B. stärkere Wutanfälle oder Stimmungsschwankungen als Gleichaltrige. Tic-Störungen (bis hin zum Tourette-Syndrom) sind in etwa 10–20 % der Fälle zu beobachten.

Im Jugend- und Erwachsenenalter verschiebt sich das Spektrum hin zu mehr internalisierenden Störungen: Unbehandelte ADHS erhöht die Vulnerabilität für Angststörungen und depressive Störungen erheblich. Schätzungsweise die Hälfte der erwachsenen ADHS-Patienten entwickeln im Laufe des Lebens eine klinisch relevante Angststörung und/oder Depression . Oft werden zunächst nur diese Begleiterkrankungen diagnostiziert (z. B. wiederkehrende Depressionen), während die zugrundeliegende ADHS übersehen wird, was die Behandlung erschwert.

Auch Substanzmissbrauch und Sucht treten gehäuft auf: ADHS-Betroffene haben ein höheres Risiko, Nikotin zu konsumieren oder im jungen Erwachsenenalter Alkohol- und Drogenprobleme zu entwickeln, teils als Form von Selbstmedikation oder aufgrund von Impulsivität.

Weniger häufig, aber ebenfalls möglich, sind Komorbiditäten wie Zwangsstörungen (zwanghafte Handlungsrituale als Gegenpol zum chaotischen ADHS-Verhalten), bipolare Störungen oder Persönlichkeitsstörungen (z. B. emotional-instabile PS).

Schließlich ist auch die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) als Komorbidität relevant – etwa 10–15 % der Kinder mit ADHS erfüllen gleichzeitig Kriterien einer ASS. Insgesamt muss bei Diagnose und Therapieplanung einer ADHS immer auf mögliche Begleiterkrankungen geachtet werden, da diese das klinische Bild wesentlich beeinflussen und oft eine angepasste Behandlung erfordern.

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Hochbegabung in Kombination mit ADHS/ADS